Geschichtensammler

Geschichtensammler

Zu jeder Zeit gab es Menschen, die den Wert des Erzählgutes ihrer Mitmenschen erkannten, es aufzeichneten und so für die Nachwelt erhielten. Gemeinsam mit Peter Stelzl wollen wir Ihnen diese Sammler und Chronisten näherbringen und auszugsweise ihre Geschichten präsentieren.

Theodor Vernaleken
Theodor Vernaleken wurde 1812 geboren und starb 1907 in Graz. Er war Volkskundler und Pädagoge, der an der Erneuerung des österreichischen Volksschulwesens großen Anteil hatte und die erste Lehrerbildungsanstalt gründete. Er war mit Jacob Grimm befreundet, der ihn dazu animierte, sich auch mit den heimischen Märchen zu beschäftigen. Sein Buch „Kinder- und Hausmärchen“ wurde 1892 erstmals aufgelegt..

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DIE DREI MÜLLER

Ein reicher Müller hatte drei Söhne, die das Handwerk des Vaters erlernten. Einige Jahre lang arbeiteten sie im elterlichen Betrieb, ehe sie in die Fremde zogen, um die Welt kennenzulernen. Sie kamen spät abends in einen dichten Wald und wollten darin übernachten. Sie bemerkten ein Licht und gingen auf die Hütte zu. Als sie näherkamen, trafen sie zu ihrem Erstaunen auf ein schönes Schloss, das hell erleuchtet war. Sie klopften an und eine Türe öffnete sich mit großem Krach. Sie betraten einen wunderschönen Saal und die Tür schloss sich von selbst. Im Saal waren viele Zwerge damit beschäftigt, einen großen Tisch zu decken. Als sie die drei Männer sahen, verließen sie den Saal und brachten kurz darauf allerlei gute Speisen, stellten diese auf den Tisch und legten goldene Löffel, Gabeln und Messer zu den Tellern. Dann forderten sie die drei Männer auf, sich zu setzen und die gereichten Speisen zu genießen. Nachdem die Müllerburschen gegessen hatten, fragten sie die Zwerge, ob sie im Haus übernachten könnten. Die Zwerge brachten drei Betten, stellten sie in einer Reihe auf und verabschiedeten sich höflich. Die drei Männer zogen sich aus, legten sich in die Betten und schliefen bald ein.

Als sie am Morgen erwachten, bemerkten sie im Saal eine große Tafel. Auf dieser stand geschrieben, dass jeder von ihnen binnen eines Jahres eines der drei folgenden Rätsel zu lösen habe: Der Älteste, was er esse; der Zweite, was er trinke und der Jüngste, worauf er liege. Wenn sie die Rätsel in der genannten Frist nicht auflösen könnten, würden alle drei dem Besitzer dieses Hauses mit Leib und Seele verfallen. Die unbekümmerten Burschen lachten darüber und freuten sich, ein ganzes Jahr freigehalten zu werden, ohne etwas arbeiten zu müssen. Sie ließen sich von den Zwergen bedienen und verlebten fröhliche Tage. Erst am letzten Abend des Jahres fingen sie zu jammern an. Der jüngste Bruder floh aus dem Haus und ließ seine Brüder im Stich. Er legte sich unter einen Baum, um sich auszurasten. Da hörte er über seinem Kopf ein Zischen. Der Bursche blickte hinauf und sah auf einem Ast eine große Schlange. Er bekam Angst, rührte sich nicht und sah, wie aus der großen Schlange eine zweite und dann eine dritte Schlange hervorkrochen. Dann fing die erste an mit menschlicher Stimme zu sprechen: „Mein Fleisch!“ Die zweite sagte: „Mein Blut!“ Und von der dritten Schlange vernahm er: „Auf meinen Beinen!“ Dann waren die Tiere verschwunden. Der junge Müller dachte nach und es schien ihm, der Rätsel Lösungen gefunden zu haben. Schnell lief er zum Schloss, wo ihn seine Brüder schon erwarteten. Ein Riese trat auf sie zu und fragte den Ältesten: „Was isst du?“ Er antwortete: „Ich esse gerne Rindfleisch!“ Darauf berührte der Riese ihn mit einem Stäbchen aus Elfenbein, worauf er gleich in einen Zwerg verwandelt wurde. Jetzt fragte er den Zweiten: „Was trinkst du?“ „Wasser und Wein!“, war die Antwort. Auch er wurde in einen Zwerg verwandelt. Nun wurde der Jüngste gefragt, worauf er denn liege. Er gab zur Antwort: „Ich liege auf meinen Beinen!“

Der Riese stampfte mit dem Fuß zornig auf den Boden und schrie: „Keiner von denen, die hier verzaubert sind, konnte diese Frage richtig beantworten. Du bist der Einzige und hast alle anderen erlöst!“ Unter donnerndem Getöse verschwand der Riese. Die Zwerge verwandelten sich wieder in ihre ursprüngliche Menschengestalt. Sie bedankten sich bei ihrem Erlöser und jeder machte sich auf den Weg nach Hause. Auch die drei Müllersöhne gingen zu ihrem Vater zurück und erzählten, was sie in diesem Jahr erlebt hatten.

Seinerzeit von Theodor Vernaleken in Bruck gehört und aufgeschrieben. Wiederentdeckt und neu bearbeitet von Peter Stelzl, festgehalten in seinem Buch „Steirischer Märchenschatz“. www.peter-stelzl.at, Tel.: 03455/596.

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